Bis 1941 verfolgt das NS-Regime eine Politik der Vertreibung, ehe mit dem Überfall auf die Sowjetunion auch die systematische Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden beginnt. Die Aktion Gildemeester organisiert die Enteignung und Ausreise österreichischer Jüdinnen und Juden. Damit rettet sie zugleich vielen Verfolgten das Leben.
März 1938, Wien: Menschenschlangen bilden sich vor dem neueröffneten Gildemeester-Büro auf dem Kohlmarkt 8. Die „Ausreisewilligen“ sind bereit, alles aufzugeben, um nur rasch das Land verlassen zu können. Binnen weniger Wochen füllen über 10.000 Menschen sogenannte „Auswandererbögen“ vor, die helfen sollen, ein Aufnahmeland zu finden. Im Februar 1939 liegen bereits 46.000 Bögen zur Bearbeitung vor.[1]
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 verfolgen die österreichischen NS-Behörden eine rigidere Vertreibungspolitik, als sie bisher im „Altreich“ betrieben wurde. Mit allen Mitteln sollen Jüdinnen und Juden so unter Druck gesetzt werden, dass sie sich möglichst rasch zur Flucht entscheiden. Ihr Vermögen soll nach den Vorstellungen des Regimes allerdings im Land bleiben. Vor dem jähen Ansturm jüdischer Flüchtlinge schließen die meisten potenziellen Aufnahmeländer rasch ihre Grenzen. Besonders schwierig ist die Lage mittelloser Menschen mit niedrigen Qualifikationen. Für sie stellen schon die Kosten der Flucht eine große Hürde dar. Zudem haben sie Schwierigkeiten, Einreiseerlaubnisse zu erhalten, weil die Aufnahmeland befürchten, dass sie sich womöglich nicht selbst erhalten könnten und daher auf staatliche Fürsorge angewiesen wären. Die NS-Behörden erhöhen einerseits den Druck immer weiter, andererseits wird nach praktikablen Lösungen gesucht, die „Auswanderung“ weiter voran zu treiben.[2]
Bereits Ende März, wenige Wochen nach dem „Anschluss“, eröffnet das „Gildemeester-Auswanderungshilfsbüro“ in Wien, im Mai 1938 wird die Aktion Gildemeester offiziell gegründet. Benannt ist es nach dem holländischen Kaufmann und Quäker Frank van Gheel-Gildemeester, involviert sind aber auch mehrere Industrielle und Bankiers, die entweder zum Christentum konvertiert oder nicht gläubig sind, nach den Kriterien der neuen Machthaber jedoch als Juden gelten. Hilfe leisten, das wissen sie, können sie nur mit Duldung der NS-Behörden. Die stellt die Aktion Gildemeester unter die Aufsicht der Gestapoleitstelle Wien und des Gauwirtschaftsberaters Otto Eberhardt. Die Idee: über die Aktion Gildemeester soll wohlhabenden Verfolgten rasch und ohne langen, aufreibenden bürokratischen Ämtermarathon zur Flucht verholfen werden. Dafür müssen sie die Flucht von ärmeren Menschen bezahlen. Besonderes Augenmerk widmet die Aktion Gildemeester Menschen, die als sogenannte „Nichtglaubensjuden“ zwar als Juden verfolgt werden, aber nicht der Israelitischen Kultusgemeinde angehören und deshalb auf NS-Befehl von dieser bei ihren Fluchtbemühungen auch nicht unterstützt werden dürfen.[3]
Die Aktion Gildemeester basiert auf einer Treuhandlösung: Zunächst müssen Wohlhabende eine genaue Auflistung ihres Besitzes erstellen. Um in die Aktion aufgenommen zu werden, müssen sie anschließend ihr gesamtes Vermögen dem Treuhänder übergeben, insbesondere Geld, Wertpapiere, Möbel, Autos und andere Wertgegenstände. In einigen Fällen übernimmt die Aktion Gildemeester auch ganze Unternehmen, die sie verkauft oder liquidiert und verwertet. Zwischen Mai 1938 und März 1939 werden auf diese Weise über 30 Millionen Reichsmark von rund 300 Personen aufgebracht.[4] Das Geld fließt zum Teil in einen Auswanderungsfonds, aus dem die Ausreise von mittellosen Verfolgten bezahlt wird. Große Summen erhält dieser Fonds auch von der Familie Kuffner, den Besitzern der Ottakringer Brauerei. Es ist seit Jahrzehnten Teil der Familientradition, Ärmeren zu helfen und durch gemeinnützige Stiftungen zum Allgemeinwohl beizutragen. So hat die Familie Kuffner 1883 die Ottakringer Sternwarte begründet, später die Errichtung des Arbeiterheimes Favoriten unterstützt.
Der Weg zur Unterstützung durch die Aktion Gildemeester ist langwierig. „Ausreisewillige“ müssen alle Formalitäten, Steuern, Abgaben und andere Verpflichtungen bereits erledigt haben, bevor sie die notwendigen Mittel erhalten. Außerdem benötigen sie eine Einreiseerlaubnis in ein Aufnahmeland und einen Reisepass. Bei der Beschaffung der Dokumente hilft das Hilfsbüro der Aktion Gildemeester. Häufig intervenieren die Rechtsanwälte der Aktion zugunsten von Inhaftierten in Konzentrationslagern, wenn bereits Dokumente für deren Ausreise vorliegen, die von den Angehörigen mit Unterstützung des Hilfsbüros organisiert worden sind. Diese Form der Unterstützung erregt mehrmals den Ärger der NS-Behörden.[5]
Ende August 1938 wird die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in der Prinz-Eugen-Straße in Wien errichtet.[6] Sie übernimmt nun auch die Kontrolle über die Aktion Gildemeester.[7]
Der Aktion Gildemeester-Mitarbeiter Emil Gottesmann erzählt später: „Wir von der ‚Gildemeester‘ haben die Leute beraten, und wenn jemand auswandern wollte, haben wir ihm in der Prinz-Eugen-Straße die notwendigen Formulare und Dokumente verschafft. Durch unsere Hilfe konnten viele auswandern, nach Shanghai, Kolumbien, Italien, der Schweiz. Hauptsächlich nach Übersee, nach Shanghai sind sehr viele ausgewandert.“[8]
Die Aktion Gildemeester hat zwei Gesichter. Einerseits ermöglicht sie mittellosen Jüdinnen und Juden die Flucht vor dem Nationalsozialismus. In Zusammenarbeit mit der Zentralstelle für jüdische Auswanderung organisiert sie Transporte nach Shanghai und Kindertransporte nach England und Schweden.[9] Zu den Ausreiseländern zählen weiters die USA, Palästina und lateinamerikanische Länder. Hingegen kommt die Ansiedlung von Jüdinnen und Juden in Madagaskar und im italienisch besetzten Abessinien, dem heutigen Äthiopien, über das Planungsstadium nicht hinaus.[10] Die Aktion ermöglicht zwischen Mai 1938 und Ende Januar 1939 etwa 4.700 Jüdinnen und Juden die Ausreise.[11]
Dafür jedoch entzieht die Aktion wohlhabenden Jüdinnen und Juden ihr gesamtes Vermögen und wirkt an der nationalsozialistischen Vertreibungspolitik mit.[12] Enteignung und Ausreise erfolgen jedenfalls nicht freiwillig. Nach dem Zweiten Weltkrieg erheben einige Beraubte schwere Vorwürfe. Sie sagen aus, dass sie der Aktion nur unter Drohungen und massivem Druck beigetreten sind. Auch soll es zu Veruntreuung und unsachgemäßer Verwendung des Vermögens gekommen sein.[13]
Als die Fluchtmöglichkeiten nach Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 versiegen, beginnt die Zentralstelle für jüdische Auswanderung damit, die noch in Wien lebenden Jüdinnen und Juden zu deportieren. Die Aktion Gildemeester wird schrittweise aufgelöst. Offiziell eingestellt wird sie Anfang 1939, aber das Hilfsbüro ist noch bis 1941 tätig, der Auswanderungsfonds existiert bis 1942.[14]
[1] Alexandra-Eileen Wenck, Die „Aktion Gildemeester“ – eine Auswanderungsaktion für Jüdinnen und Juden nichtmosaischen Glaubens im besetzten Österreich, in: Christina Gschiel/Ulrike Nimeth/Leonhard Weidinger (Hg.), schneidern und sammeln. Die Wiener Familie Rothberger, Wien/Köln/Weimar 2010, 183–204, hier 196.
[2] Theodor Venus/Alexandra-Eileen Wenck, Die Entziehung jüdischen Vermögens im Rahmen der Aktion Gildemeester. Eine empirische Studie über Organisation, Form und Wandel von „Arisierung“ und jüdischer Auswanderung in Österreich 1938–1941 (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 20/2), Wien/München 2004, 17.
[3] Gabriele Anderl, Die Wiener jüdische Gemeinde unter nationalsozialistischer Herrschaft, in Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 130–149, hier 135f.
[4] Venus/Wenck, Aktion Gildemeester, 2004, 532.
[5] Venus/Wenck, Aktion Gildemeester, 2004, 173–174; Wenck, Aktion Gildemeester, 2010, 198.
[6] Gabriele Anderl, Die „Zentralstellen für jüdische Auswanderung“ in Wien, Berlin und Prag – ein Vergleich, in: Institut für Deutsche Geschichte Universität Tel Aviv (Hg.), Nationalsozialismus aus heutiger Perspektive (=Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 23), Gerlingen 1994, 275–299, hier 288.
[7] Venus/Wenck, Aktion Gildemeester, 2004, 15.
[8] Emil Gottesmann, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten (=Erzählte Geschichte, Bd. 3), Wien 1992 212.
[9] Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main 2000, 113.
[10] Venus/Wenck, Aktion Gildemeester, 2004, 525–526.
[11] Wenck, Aktion Gildemeester, 2010, 185.
[12] Venus/Wenck, Aktion Gildemeester, 2004, 20–23.
[13] Venus/Wenck, Aktion Gildemeester, 2004, 531.
[14] Wenck, Aktion Gildemeester, 2010, 198–199.