Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich kommt es zu wochenlangen antisemitischen Ausschreitungen im ganzen Land.
April 1938, Mittersill in Salzburg: Nationalsozialisten überfallen den jüdischen Zahnarzt Paul Bierer, legen ihm eine Schlinge um den Hals und führen ihn in eine Allee. Dort drohen sie, ihn zu erhängen. Schließlich greift ein Gendarm ein und macht der Szene ein Ende.[1]
Vergleichbare Szenen spielen sich in allen Bundesländern ab. Besonders zahlreich sind die Ausschreitungen in Wien. Fast zweihunderttausend Menschen, ein Zehntel der Stadtbevölkerung, gilt nach NS-Kriterien als „jüdisch“.[2]
In Wien randalieren Nazis nach der NS-Machtübernahme wochenlang. Sie greifen Menschen an, die sie für jüdisch halten, plündern Wohnungen und Geschäftslokale, schlagen Schaufenster ein, zertrümmern Mobiliar und rauben Wertgegenstände. Auf offener Straße werden Menschen misshandelt, öffentlich gedemütigt und zu entwürdigenden „Exerzierübungen“ gezwungen. Viele müssen auf Knien Gehsteige und Plätze reinigen oder Parolen abwaschen, mit denen das austrofaschistische Regime für ein eigenständiges Österreich geworben hatte.
In vielen Fällen sind Opfer und Täter einander bekannt – Nachbarn, ehemalige Geschäftspartner oder Konkurrenten nutzen die Gelegenheit, um lang unterdrückten Hass offen auszuleben – oder auch einfach nur, um Beute zu machen. Die Polizei sieht den Vorgängen tatenlos zu oder beteiligt sich. Menschen, die sich auf der nächsten Wache beschweren, werden abgewiesen oder davon gejagt. Der plötzliche Verlust aller Rechte ist für viele Betroffene ein Schock. Über Nacht ist man vogelfrei geworden.[3]
Begleitet werden die Ausschreitungen und Plünderungen von willkürlichen „Verhaftungen“ durch SA- und HJ-Angehörige, aber auch durch einzelne Nazis. Nicht selten werden Menschen auf bloßen Verdacht hin, es könne sich um Juden handeln, angegriffen und „festgenommen“. Der Zweck ist dann oft Erpressung: in SA-Lokalen, Schulen oder Gasthäusern angehalten, werden die Betroffenen erst gehen gelassen, nachdem ihre Angehörigen „Spenden“ an die jeweilige Nazi-Gruppe entrichtet haben.[4]
Die Nazis rufen auch zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Sie beschmieren Schaufensterscheiben oder stellen Posten vor den Eingang, um Kundschaft am Betreten zu hindern. In manchen Fällen werden jüdische Geschäftsinhaber oder deren Angehörige gezwungen, sich mit einer Tafel mit Aufschriften wie „Arier, kauft nicht bei Juden“ vor das Geschäft zu stellen.[5] Wer sich dem Boykott widersetzt, riskiert im günstigsten Fall Beschimpfungen, meist Schläge. Einzelne „Arier“, die trotz des Boykotts in jüdischen Geschäften einkaufen, werden daraufhin mit Schildern durch die Gassen geführt, auf denen unter anderem zu lesen ist: „Dieses arische Schwein kauft bei Juden ein“.[6]
Die Gewalt erreicht in den ersten Tagen nach dem „Anschluss“ ihren Höhepunkt, endet vorläufig aber erst im Frühsommer 1938. Was als spontane Ausschreitung „von unten“ beginnt, wird bald durch systematische Maßnahmen der NS-Behörden „von oben“ abgelöst – und fortgeführt.[7]
[1] Vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934-1945. Eine Dokumentation, Bd. 2, Wien 1991, 440–441.
[2] Tim Corbett,Jüdisches Leben in Wien bis 1938. Gemeinschaft, Gesellschaft und Alltag, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 15–35, hier 17.
[3] Corbett, Jüdisches Leben, 2025, 33.
[4] Christoph Lind, „Als alle weg waren, wurde die weiße Fahne gehisst“ – Österreichs „Provinzjuden“ nach dem „Anschluss“, in: Christine Schindler, Wolfgang Schellenbacher (Hg.), Delogiert und ghettoisiert. Jüdinnen und Juden vor der Deportation, Wien 2022 (= Jahrbuch 2022), 39–73, hier 49.
[5] Regina Fritz, „Anschluss“: Pogrome, Raubzug und systematische antijüdische Staatspolitik 1938, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 58–73, hier 63.
[7] Fritz, „Anschluss“, 2025, 64 f.