„Arisierung“ im National­sozialismus: Der Raub „jüdischen“ Eigentums


In einer staatlich organisierten Kampagne wird die jüdische Bevölkerung systematisch enteignet. Betriebe, Wohnungen und Wertgegenstände gehen in „arisches“ Eigentum über. Zehntausende profitieren.


Fassade eines Hauses, mittig ein Hauseingang, darüber eine Leuchtreklame „Kino Schäffer“, darunter ein Schild mit der Aufschrift „Arisierter Betrieb“. Im Vordergrund zwei Passanten. © Wien Museum
© Wien Museum
Das Schäffer-Kino in der Wiener Mariahilfer Straße befindet sich im Besitz von Fanny Sidonie und Friedrich Taussig, bis der Nationalsozialist Rudolf Proksch den Betrieb 1938 „arisiert“.

Mai 1938, Kärntner Straße 44, Wien: Der Verleger und SA-Mann Johannes Katzler hängt ein Schild an die Eingangstür einer Buchhandlung. Darauf zu lesen: sein Name. Dem jüdischen Besitzer Richard Lányi verbietet Katzler das Betreten von dessen eigenen Geschäftsräumlichkeiten mit sofortiger Wirkung. Katzler, der über beste Kontakte zur Gestapo verfügt setzt seine Verbindungen auch gerne als Druckmittel ein. In wenigen Monaten treibt Katzler das Geschäft Lányis in den Ruin. Kein Wunder: statt den Betrieb weiter zu führen, bedient sich Katzler selbst und verkauft ansonsten den vorhandenen Warenbestand an Gemälden und Büchern ab. Die Erlöse streicht er ein.[1]

Ein Mann mit Hut und Mantel pinselt „JU“ auf einen Rollladen. Eine lachende Frau sieht ihm zu. © ÖNB Bildarchiv
Nach dem „Anschluss“ zwingen Nazis einen jüdischen Eigentümer dazu, sein Geschäft als „jüdisch“ zu markieren. © ÖNB Bildarchiv

Der Fall Katzler ist nur einer von tausenden. Noch bevor deutsche Truppen in Wien einmarschieren, beginnen in der Stadt antijüdische Ausschreitungen. Nazis trommeln an Wohnungstüren, öffnet man ihnen, dringen sie in die Wohnung ein, zerschlagen Mobiliar, nehmen was ihnen gefällt oder erklären überhaupt, die Wohnung sei jetzt ihre. Die Opfer sind diesem Treiben hilflos ausgeliefert. Gleiches gilt für jüdische Geschäftsinhaber:innen: in vielen Fällen tauchen Wildfremde im Geschäft auf und erklären sich zu „kommissarischen Verwaltern“. Als solche plündern sie vorhandene Lagerbestände, verkaufen Waren zu Schleuderpreisen und behalten das Geld für sich. Beliebt ist auch die Methode der „Verwalter“, enorme Bestellungen auf Kosten des jüdischen Geschäftes zu tätigen, dieses mittelfristig in die Pleite zu treiben und  zuvor aber noch die bestellten Waren gewinnbringend zu verkaufen. Diese Form der „wilden“ Enteignung läuft unkoordiniert ab und führt zu enormen finanziellen Verlusten, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für den NS-Staat, der am großen Raubzug beteiligt werden will. Um die „wilden Arisierungen“ in kontrollierte Bahnen zu lenken, erlässt das Regime bald eine Reihe von Verordnungen.[2]


Planmäßige „Arisierung“

Mit der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom April 1938 beginnt die staatlich gelenkte, systematische Erfassung jüdischen Eigentums. Jüdinnen und Juden – wie auch deren allfällige nichtjüdische Ehepartner:innen – müssen ihr gesamtes Vermögen melden. Dazu zählen Bargeld, Bankkonten, Unternehmen, Immobilien, Kunstwerke und andere Wertgegenstände. Lediglich Haushaltsgegenstände und Möbel sind ausgenommen. Die NS-Stellen verschaffen sich so alle notwendigen Informationen, um die Beschlagnahme der jüdischen Unternehmen und Immobilien, aber auch von Aktien- und Finanzvermögen in die Wege leiten zu können.[3]


Abwicklung der „Arisierung“

Für den reibungslosen Ablauf des Enteignungsprogramms wird eine neue Behörde geschaffen: die Vermögensverkehrsstelle. Dieses Amt setzt die Verkaufspreise für jüdische Unternehmen und Wohnungen fest – in der Regel weit unter dem tatsächlichen Marktwert. Die erzwungenen Verkäufe sollen zumindest dem Anschein nach geordnet und rechtmäßig vor sich gehen. In Wirklichkeit ist es schlicht Raub. Selbst auf den meist viel zu geringen Erlös haben die jüdischen „Verkäufer:innen“ meist keinen Zugriff. Das Geld landet auf einem Sperrkonto.[4] Die NS-Finanzverwaltung zieht dann diskriminierende Sondersteuern und Abgaben ein, vor allem die „Reichsfluchtsteuer“ und die „Judenvermögensabgabe“. Die Überweisung des verbliebenen Geldes, sofern ein solches überhaupt noch vorhanden ist, zieht sich über Monate. Mit Kriegsbeginn endet die Auszahlung gänzlich.


„Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“

Die systematische Enteignung der jüdischen Bevölkerung erreicht mit dem Novemberpogrom 1938 eine neue Dimension. Die nur zwei Tage nach den Ausschreitungen, am 12. November 1938 erlassene „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ verbietet Juden und Jüdinnen, Einzelhandelsgeschäfte oder Handwerksbetriebe zu führen. In der Folge werden diese entweder von der „arischen“ Konkurrenz um einen Bruchteil des Realwertes übernommen, oder behördlich geschlossen. Dabei spielen auch volkswirtschaftliche Überlegungen eine Rolle. produktive Betriebe sollen fortgeführt werden, in manchen Branchen setzt man aber bewusst auf eine Verringerung der vorhandenen Unternehmen und innerbetriebliche Rationalisierung. Etwa 80 Prozent der „arisierten“ Betriebe werden aber stillgelegt. Das betrifft vor allem kleine Geschäfte, Banken und Handwerksbetriebe.[5] Damit sollen nicht zuletzt Arbeitskräfte frei gemacht werden, die im Zuge der Kriegsvorbereitungen in anderen Branchen dringend benötigt werden.[6]

Eine weitere „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ folgt im Dezember 1938 und zwingt endgültig zur Liquidierung oder zum Verkauf sämtlicher noch vorhandener „jüdischer“ Gewerbebetriebe.[7] Auch die „Zwangsentjudung“ von Liegenschaften unterliegt nun der staatlichen Lenkung.

Die Bilanz: Bis Ende 1938 zieht die Vermögensverkehrsstelle zwei Milliarden Reichsmark ein, das entspricht etwa zwei Dritteln des gesamten Vermögens derjenigen, die jetzt als „Juden“ verfolgt werden.[8] Die systematische Enteignung führt binnen kurzer Zeit zur massenhaften Verarmung der jüdischen Bevölkerung. Im Februar 1940 ist die jüdische Bevölkerung Wiens auf 50.000 bis 60.000 Menschen zusammengeschmolzen. Davon sind über 30.000 Menschen auf die Unterstützung der Jüdischen Gemeinde Wien angewiesen. Nur wenige Monate später, Anfang Juni 1940, ist die Zahl der Hilfsbedürfigen bereits auf 43.000 Menschen angewachsen und macht damit mehr als vier Fünftel der noch in Wien verbliebenen Jüdinnen und Juden aus.[9].


[1] Murray G. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Band II. Belletristische Verlage der Ersten Republik, Wien/Köln/Graz 1985, 231; Katja Berz, „Arisierung“ im österreichischen Buchhandel. Auf den Spuren der Buchhandlungen Richard Lányi, Alois Reichmann, Josef Kende, Moritz Perles, M. Breitenstein, Heinrich Saar und Dr. Carl Wilhelm Stern, Diplomarbeit Universität Wien, Wien 2009, 68–72.

[2] Regina Fritz, „Anschluss“: Pogrome, Raubzug und systematische antijüdische Staatspolitik 1938, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien 1938-1943, Wien, 58-73: 65.

[3] Ilse Reiter-Zatloukal, Ausgebürgert und ausgeraubt. Staatsbürgerschafts- und Vermögensentzug bei „Emigration“ und Deportation nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938, Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien 1938-1943, Wien, 152-169, 161.

[4] ebenda.

[5] Berthold Unfried, Liquidierung und Arisierung von Betrieben als Elemente von

Strukturpolitik und NS-„Wiedergutmachung“, in: Ulrike Felber et al. (Hg.), Ökonomie der Arisierung. Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen, Wien/München 2004, 166–226, hier 168.

[6] Götz Aly et al. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Band 2 Deutsches Reich 1938 – August 1939, München 2009, 38; Regina Fritz, „Anschluss“, 2025, 66.

[7] Fritz Weber, Die Arisierung in Österreich: Grundzüge, Akteure und Institutionen, in: Ulrike Felber et al. (Hg.), Ökonomie der Arisierung. Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen, Wien/München 2004, 40–165, hier 86.

[8] Aly, Verfolgung, 2009, 39.

[9] Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942), München 2002, 283.