Wien, März 1938: Nazis dringen mit aufgepflanzten Bajonetten in die Wohnung von Rudolf Stern in Wien ein und schlagen alles kurz und klein. Die Männer zwingen Stern, eine verschlossene Schublade zu öffnen. Das darin verwahrte Bargeld nehmen sie mit.[2]
Auf den „Anschluss“ folgen wochenlange Ausschreitungen. Viele Anhänger:innen der neuen Machthaber nutzen die Gelegenheit zur persönlichen Bereicherung.
Nazis dringen in Wohnungen ein, vertreiben die jüdischen Bewohner:innen und rauben alles, was nicht niet- und nagelfest ist: Schmuck, Kleidung, Möbel oder Radios – selbst Puderdosen und Bettwäsche nehmen sie mit. Auch Autos werden „beschlagnahmt“. In die leeren Wohnungen ziehen Parteimitglieder und Günstlinge des NS-Regimes ein.[3] Die Betroffenen sind dieser Gewalt schutzlos ausgeliefert. Die Polizei greift nicht ein. Im Gegenteil: schon bald beteiligt sie sich aktiv an den Aktionen.[4]
Meist sind lokale NS-Aktivisten die treibende Kraft hinter „wilden Arisierungen“. Die Aktionen werden aber auch von der NSDAP und ihren Gliederungen, vor allem durch die SA, mit Hilfe vorbereiteter Listen umgesetzt. Die Grenze zwischen spontanen Übergriffen und staatlich organisiertem Terror und Raub ist fließend.[5]
Auch Betriebe, deren Eigentümer:innen nunmehr als Juden und Jüdinnen verfolgt werden, geraten ins Visier. Nazis in Zivil und SA-Männer nehmen in Geschäften, was ihnen gefällt: Lebensmittel, Schuhe, Anzüge oder Stoffe, mitunter gleich die Kassa. Unter diesen Umständen ziehen es viele jüdische Geschäftsleute vor, ihre Betriebe so schnell als möglich zu verkaufen. Selbsternannte „Kommissare“ nutzen die Gelegenheit zur billigen Übernahme: Sie zwingen die jüdischen Eigentümer:innen zur Veräußerung ihrer Betriebe zu Preisen, die oft nicht einmal 10 Prozent des tatsächlichen Werts betragen.[6]
Die meisten „Kommissare“ verstehen nichts von Betriebsführung und wollen lediglich die Gelegenheit wahr nehmen, sich zu bereichern.[7] Sie ruinieren die von ihnen „verwalteten“ Unternehmen oft binnen kürzester Zeit, teils vorsätzlich, teils aus Unvermögen. Das entgeht der Obrigkeit nicht. Der nationalsozialistische Wirtschaftsminister Hermann Göring bezeichnet das Kommissarwesen in Österreich durchaus zutreffend als „Versorgungssystem untüchtiger Parteigenossen“.[8] Weil das Regime durch das eigennützige Handeln der „Kommissare“ wirtschaftlichen Schaden befürchtet und zudem die „Arisierung“ auch nach bestimmten volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten nützen will, wird die Enteignung bald zunehmend zentral gesteuert. Der Übergang zur planmäßigen „Arisierung“ markiert eine neue Phase der systematischen Entrechtung.[9]
[1] Fritz Weber, Die Arisierung in Österreich: Grundzüge, Akteure und Institutionen, in: Ulrike Felber et al. (Hg.), Ökonomie der Arisierung. Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen, Wien/München 2004, 40–165, hier 66.
[3] Regina Fritz, „Anschluss“: Pogrome, Raubzug und systematische antijüdische Staatspolitik 1938, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 58–73, hier 63.
[4] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 38–39.
[5] Regina Fritz, „Anschluss“, 2025, 63.
[6] Weber, Arisierung, 2004, 65–80; Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung 1938–1939, Wien 2018, 313.
[7] Hans Witek, „Arisierungen“ in Wien. Aspekte nationalsozialistischer Enteignungspolitik 1938–1940, in: Emmerich Tálos et al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 795–816, hier 802.
[8] Weber, Arisierung, 71.
[9] Regina Fritz, „Anschluss“, 2025, 64 f.