„Wilde Arisierungen“: Gewalt, Enteignung und Raub


Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich beginnt im März 1938 ein beispielloser Raubzug gegen die jüdische Bevölkerung. Große und kleine Nazis eignen sich eigenmächtig Mobiliar und Wertgegenstände, Wohnungen, Geschäfte und Unternehmen an.
Eingang zu einem Geschäftslokal mit der Hausnummer 27, darüber die Aufschrift „Kommissarische Verwaltung“. © ÖNB Bildarchiv
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Ein ehemaliges jüdisches Geschäft, 1938. In den ersten Wochen nach dem „Anschluss“ enteignen etwa 25.000 „Kommissare“ jüdische Geschäftsleute und Handwerker in Wien.

Wien, März 1938: Nazis dringen mit aufgepflanzten Bajonetten in die Wohnung von Rudolf Stern in Wien ein und schlagen alles kurz und klein. Die Männer zwingen Stern, eine verschlossene Schublade zu öffnen. Das darin verwahrte Bargeld nehmen sie mit.[2]

Auf den „Anschluss“ folgen wochenlange Ausschreitungen. Viele Anhänger:innen der neuen Machthaber nutzen die Gelegenheit zur persönlichen Bereicherung. 

Eine Menschenmenge, einige tragen Hakenkreuz-Armbinden, treibt mindestens drei Juden vor sich her. Im Hintergrund Häuser und Bäume. © ÖNB Bildarchiv
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Ein Nazi-Mob führt in Wien orthodoxe Juden durch die Straße, März 1938. Alle, die sich eine Hakenkreuzbinde über den Arm streifen, können seit dem „Anschluss“ ungehindert Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung ausüben.

„Arisierung“ von Wohnungen 

Nazis dringen in Wohnungen ein, vertreiben die jüdischen Bewohner:innen und rauben alles, was nicht niet- und nagelfest ist: Schmuck, Kleidung, Möbel oder Radios – selbst Puderdosen und Bettwäsche nehmen sie mit. Auch Autos werden „beschlagnahmt“. In die leeren Wohnungen ziehen Parteimitglieder und Günstlinge des NS-Regimes ein.[3] Die Betroffenen sind dieser Gewalt schutzlos ausgeliefert. Die Polizei greift nicht ein. Im Gegenteil: schon bald beteiligt sie sich aktiv an den Aktionen.[4]

immer mit Bücherwand, darüber eine Reihe von gerahmten Bildern an der Wand und ein Kronleuchter. Davor ein Tisch mit gepolsterten Stühlen auf einem großen Teppich. Rechts im Eck eine Vase. © Wien Museum
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Auch das Palais Kranz in Wien, das bis dahin der jüdischen Familie Stern gehört hat, fällt den Nazis in die Hände. Foto aufgenommen im Juni 1938.

Meist sind lokale NS-Aktivisten die treibende Kraft hinter „wilden Arisierungen“. Die Aktionen werden aber auch von der NSDAP und ihren Gliederungen, vor allem durch die SA, mit Hilfe vorbereiteter Listen umgesetzt. Die Grenze zwischen spontanen Übergriffen und staatlich organisiertem Terror und Raub ist fließend.[5]

Tisch mit Stühlen im Vordergrund, links hinten an der Wand ein großer Aktenschrank, rechts daneben ein Durchgang in das Nebenzimmer, wo eine Person steht. © Bundesarchiv
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„Jüdische“ Betriebe und Geschäftslokale werden im Zuge der „wilden Arisierungen“ durchsucht und ausgeräumt. Aufnahme während einer Razzia in einem Wiener Unternehmen, 1938.

Auch Betriebe, deren Eigentümer:innen nunmehr als Juden und Jüdinnen verfolgt werden, geraten ins Visier. Nazis in Zivil und SA-Männer nehmen in Geschäften, was ihnen gefällt: Lebensmittel, Schuhe, Anzüge oder Stoffe, mitunter gleich die Kassa. Unter diesen Umständen ziehen es viele jüdische Geschäftsleute vor, ihre Betriebe so schnell als möglich zu verkaufen. Selbsternannte „Kommissare“ nutzen die Gelegenheit zur billigen Übernahme: Sie zwingen die jüdischen Eigentümer:innen zur Veräußerung ihrer Betriebe zu Preisen, die oft nicht einmal 10 Prozent des tatsächlichen Werts betragen.[6]

Die meisten „Kommissare“ verstehen nichts von Betriebsführung und wollen lediglich die Gelegenheit wahr nehmen, sich zu bereichern.[7] Sie ruinieren die von ihnen „verwalteten“ Unternehmen oft binnen kürzester Zeit, teils vorsätzlich, teils aus Unvermögen. Das entgeht der Obrigkeit nicht. Der nationalsozialistische Wirtschaftsminister Hermann Göring bezeichnet das Kommissarwesen in Österreich durchaus zutreffend als „Versorgungssystem untüchtiger Parteigenossen“.[8] Weil das Regime durch das eigennützige Handeln der „Kommissare“ wirtschaftlichen Schaden befürchtet und zudem die „Arisierung“ auch nach bestimmten volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten nützen will, wird die Enteignung bald zunehmend zentral gesteuert. Der Übergang zur planmäßigen „Arisierung“ markiert eine neue Phase der systematischen Entrechtung.[9]

[1] Fritz Weber, Die Arisierung in Österreich: Grundzüge, Akteure und Institutionen, in: Ulrike Felber et al. (Hg.), Ökonomie der Arisierung. Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen, Wien/München 2004, 40–165, hier 66.

[2] Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008, 31.

[3] Regina Fritz, „Anschluss“: Pogrome, Raubzug und systematische antijüdische Staatspolitik 1938, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 58–73, hier 63.

[4] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 38–39.

[5] Regina Fritz, „Anschluss“, 2025, 63.

[6] Weber, Arisierung, 2004, 65–80; Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung 1938–1939, Wien 2018, 313.

[7] Hans Witek, „Arisierungen“ in Wien. Aspekte nationalsozialistischer Enteignungspolitik 1938–1940, in: Emmerich Tálos et al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 795–816, hier 802.

[8] Weber, Arisierung, 71.

[9] Regina Fritz, „Anschluss“, 2025, 64 f.