Der letzte Ausweg: Suizid


Der tägliche Straßenterror, die Hetze der NS-Propaganda und die Ausweglosigkeit der eigenen Situation lassen seit dem „Anschluss“ 1938 unter den Verfolgten die Zahl der Selbstmorde sprunghaft ansteigen.


15. März 1938, Wien: Die Rettung liefert ununterbrochen Verletzte in das Rothschild-Spital der Israelitischen Kultusgemeinde ein. Das Personal muss Notbetten aufstellen. Eine Krankenschwester erzählt später: „Leute mit einem zerschmetterten Gesicht, die schon gar nicht mehr bei Bewusstsein gewesen sind, oder Leute, die vollkommen verstört waren und wahnsinnig um sich geschlagen haben. Das war eine katastrophale Nacht, es ist vielleicht den wenigsten bekannt, dass es so viele Selbstmorde gegeben hat.“[1] 
Ein langgezogener, zweistöckiger Bau, der in drei Risalite gegliedert ist, wobei der mittlere den Haupteingang bildet und höher ist. Davor eine Straße und Bäume.  © Archiv Bezirksmuseum Währing
© Archiv Bezirksmuseum Währing
Das Rothschild-Spital der Israelitischen Kultusgemeinde [LINK IKG], ist das einzige Krankenhaus in Wien, das Jüdinnen und Juden nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland noch aufnimmt.

Die beschriebene Szene spielt sich einen Tag nach der Ankunft Adolf Hitlers, am 14. März 1938, in Wien ab. In ganz Österreich kommt es damals zu gewalttätigen Ausschreitungen. Nazis zwingen Juden und Jüdinnen dazu, auf ihren Knien die Straße mit Bürsten zu reinigen, sie werden beschimpft und geschlagen, massenhaft wird geplündert. Die Polizei sieht dem Treiben tatenlos zu. Mehrere Opfer, die sich mit der Bitte um Schutz an sie wenden, werden festgenommen.

Gittertor, auf dem ein Schild mit der Aufschrift „Juden betreten diese Parkanlage auf eigene Gefahr“ angebracht ist. Im Hintergrund ein Gehweg, Wiese und Bäume. © ÖNB Bildarchiv
© ÖNB Bildarchiv
Antisemitische Tafel am Eingangstor einer Wiener Parkanlage, Juni 1938. Nach dem Novemberpogrom ist Juden und Jüdinnen der Zutritt zu öffentlichen Parkanlagen, Gärten und Sportplätzen offiziell verboten.

Entrechtung und Ausgrenzung

Nach dem Abflauen der spontanen Ausschreitungen setzen die NS-Stellen die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung „offiziell“ und planmäßig fort. Berufsverbote, Geschäftsschließungen, Schulverweise und Delogierungen folgen.

Bis zum Kriegsbeginn im September 1939 folgen über 250 Verordnungen, die gegen Jüdinnen und Juden gerichtet sind. Darunter beispielsweise das Verbot von Kino- und Theaterbesuchen, das Verbot Auto zu fahren oder Haustiere zu halten, oder der Zwang, zweite, eindeutig „jüdische“ Vornamen anzunehmen, meist Israel oder Sara.


Selbstmord als letzter Ausweg

Um sich dem Zangengriff aus spontanem Terror und organisierter Gewalt zu entziehen, setzen allein im März 1938 etwa 220 Menschen in Wien ihrem Leben selbst ein Ende, darunter neben Arbeiter:innen vor allem auch Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte, die von den Plünderungen, aber auch den ersten Berufsverboten besonders stark betroffen sind. Dokumentiert sind auch 211 gescheiterte Selbstmordversuche. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch wesentlich höher.[2]

Eine Menschenmenge blickt auf eine brennende Synagoge, aus der Rauchschwaden aufsteigen. Im Vordergrund ein Mann mit Fahrrad, der in Richtung Kamera blickt.  © Universalmuseum Joanneum Graz/ Multimediale Sammlungen
© Universalmuseum Joanneum Graz/ Multimediale Sammlungen
Auch in den Bundesländern kommt es zu Ausschreitungen. In Graz setzen Nazis die Zeremonienhalle auf dem jüdischen Friedhof in Brand, November 1938.

Der britische Journalist G. E. R. Gedye berichtet später: „Es war einfach unmöglich, irgend jemandem außerhalb Österreichs verständlich zu machen, mit welcher resignierten Sachlichkeit die österreichischen Juden damals von Selbstmord als einem alltäglichen Ausweg aus ihrer entsetzlichen Lage sprachen. Jüdische Freunde teilten einem den Entschluss, Selbstmord zu verüben, in dem gleichen Ton mit, in dem sie einem früher erzählt hatten, dass sie eine kurze Eisenbahnreise unternehmen würden.“[3]

Titelseite einer Zeitschrift mit der Überschrift: „Jewish Suicides in Austria put at 2.000. Arrests 12.000 since Anschluss“. © Jewish Telegraphic Agency
© Jewish Telegraphic Agency
Immer wieder berichtet die Jewish Telegraphic Agency von Selbstmorden in Österreich.

Bis 1942 gelingt über 130.000 Menschen, die meisten davon Jüdinnen und Juden, die Flucht aus dem annektierten Österreich.[4] Bei manchen von ihnen sitzt der Schock über das Erlebte so tief, dass sie sich davon auch nicht erholen, als sie schon in Sicherheit sind. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Furcht vor einem deutschen Sieg verstärken das Gefühl, nirgends vor den Verfolgern sicher zu sein. So wählt auch der Schriftsteller Stefan Zweig gemeinsam mit seiner zweiten Gattin Lotte Altmann im Februar 1942 den Freitod. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt im brasilianischen Exil, leidet unter schweren Depressionen und hat die Hoffnung auf ein rasches Kriegsende verloren.[5]

Menschen mit Gepäckstücken stellen sich vor einer Treppe an. Links im Hintergrund ein Schwimmreifen auf einer Wand, rechts eine wartende Menschenmenge hinter einem Zaun. © American Jewish Joint Distribution Committee Archives
© American Jewish Joint Distribution Committee Archives
Flüchtlinge besteigen 1940 in Lissabon das Schiff S.S. Mouzinho, das sie nach New York bringen wird. Trotz strenger Einreisebestimmungen finden viele Verfolgte Zuflucht in den USA. In Städten wie New York und San Francisco, wo sich besonders viele Emigrant:innen niederlassen, bilden sie eigene österreichische Zirkel.

[1] Margit Czernetz, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Band 1: Arbeiterbewegung, Wien 1985, 176.

[2] Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung 1938/39, Wien 2018, 159–163.

[3] G. E. R. Gedye, Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte, Wien 1947, 292.

[4] Claudia Kuretsidis-Haider, Vertreibung und Vernichtung. Neue quantitative und qualitative Forschungen zu Exil und Holocaust, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Forschungen zu Vertreibung und Holocaust (= Jahrbuch 2018), Wien 2018, 9–29, hier 16. 

[5] Alberto Dines, Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig, Frankfurt am Main 2006, 427.