Der tägliche Straßenterror, die Hetze der NS-Propaganda und die Ausweglosigkeit der eigenen Situation lassen seit dem „Anschluss“ 1938 unter den Verfolgten die Zahl der Selbstmorde sprunghaft ansteigen.
Die beschriebene Szene spielt sich einen Tag nach der Ankunft Adolf Hitlers, am 14. März 1938, in Wien ab. In ganz Österreich kommt es damals zu gewalttätigen Ausschreitungen. Nazis zwingen Juden und Jüdinnen dazu, auf ihren Knien die Straße mit Bürsten zu reinigen, sie werden beschimpft und geschlagen, massenhaft wird geplündert. Die Polizei sieht dem Treiben tatenlos zu. Mehrere Opfer, die sich mit der Bitte um Schutz an sie wenden, werden festgenommen.
Nach dem Abflauen der spontanen Ausschreitungen setzen die NS-Stellen die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung „offiziell“ und planmäßig fort. Berufsverbote, Geschäftsschließungen, Schulverweise und Delogierungen folgen.
Bis zum Kriegsbeginn im September 1939 folgen über 250 Verordnungen, die gegen Jüdinnen und Juden gerichtet sind. Darunter beispielsweise das Verbot von Kino- und Theaterbesuchen, das Verbot Auto zu fahren oder Haustiere zu halten, oder der Zwang, zweite, eindeutig „jüdische“ Vornamen anzunehmen, meist Israel oder Sara.
Um sich dem Zangengriff aus spontanem Terror und organisierter Gewalt zu entziehen, setzen allein im März 1938 etwa 220 Menschen in Wien ihrem Leben selbst ein Ende, darunter neben Arbeiter:innen vor allem auch Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte, die von den Plünderungen, aber auch den ersten Berufsverboten besonders stark betroffen sind. Dokumentiert sind auch 211 gescheiterte Selbstmordversuche. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch wesentlich höher.[2]
Der britische Journalist G. E. R. Gedye berichtet später: „Es war einfach unmöglich, irgend jemandem außerhalb Österreichs verständlich zu machen, mit welcher resignierten Sachlichkeit die österreichischen Juden damals von Selbstmord als einem alltäglichen Ausweg aus ihrer entsetzlichen Lage sprachen. Jüdische Freunde teilten einem den Entschluss, Selbstmord zu verüben, in dem gleichen Ton mit, in dem sie einem früher erzählt hatten, dass sie eine kurze Eisenbahnreise unternehmen würden.“[3]
Bis 1942 gelingt über 130.000 Menschen, die meisten davon Jüdinnen und Juden, die Flucht aus dem annektierten Österreich.[4] Bei manchen von ihnen sitzt der Schock über das Erlebte so tief, dass sie sich davon auch nicht erholen, als sie schon in Sicherheit sind. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Furcht vor einem deutschen Sieg verstärken das Gefühl, nirgends vor den Verfolgern sicher zu sein. So wählt auch der Schriftsteller Stefan Zweig gemeinsam mit seiner zweiten Gattin Lotte Altmann im Februar 1942 den Freitod. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt im brasilianischen Exil, leidet unter schweren Depressionen und hat die Hoffnung auf ein rasches Kriegsende verloren.[5]
[1] Margit Czernetz, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Band 1: Arbeiterbewegung, Wien 1985, 176.
[2] Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung 1938/39, Wien 2018, 159–163.
[3] G. E. R. Gedye, Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte, Wien 1947, 292.
[4] Claudia Kuretsidis-Haider, Vertreibung und Vernichtung. Neue quantitative und qualitative Forschungen zu Exil und Holocaust, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Forschungen zu Vertreibung und Holocaust (= Jahrbuch 2018), Wien 2018, 9–29, hier 16.
[5] Alberto Dines, Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig, Frankfurt am Main 2006, 427.