Unter den Verhafteten ist auch Desider Friedmann, der Präsident der Kultusgemeinde. Er wird Anfang April 1938 mit dem ersten „Prominententransport“ in das Konzentrationslager Dachau verschleppt und schließlich 1944 in Auschwitz ermordet.
Bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938 kümmert sich die Kultusgemeinde vor allem um Bildungs- und Kultusfragen, so etwa um die Erhaltung von Synagogen oder die Bestellung von Religionslehrern und Rabbinern. Eine weitere zentrale Aufgabe ist die Unterstützung der bedürftigen jüdischen Bevölkerung. Die IKG finanziert zahlreiche Fürsorgeeinrichtungen, darunter ein Altersheim, ein Spital und ein Kinderambulatorium. Im Rahmen regelmäßiger Spendenaktionen werden zudem Kleidung, Lebensmittel oder Kohle gesammelt, die an ärmere Gemeindemitglieder verteilt werden. Insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise wird diese Hilfe dringend gebraucht, weil auch die jüdische Bevölkerung rasant verarmt und auf Unterstützung angewiesen ist. So müssen 1936 von der Kultusgemeinde 60.000 Menschen „befürsorgt“ werden.[2] Das dritte bedeutende Aufgabengebiet der Kultusgemeinde ist die Förderung des kulturellen Lebens der Mitglieder, insbesondere durch die Unterstützung des breit gefächerten jüdischen Vereinswesens.
Nachdem die Kultusgemeinde im März 1938 auf Geheiß des SD geschlossen worden ist, wird sie Anfang Mai 1938 wiedereröffnet, nachdem sie entlang der Vorgaben Adolf Eichmanns reorganisiert worden ist. Nunmehr muss sie die Bezeichnung Jüdische Gemeinde Wien tragen und steht unter der Kontrolle des SD. Da das NS-Regime in der ersten Phase auf die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung abzielt, besteht die Hauptaufgabe, die man der Jüdischen Gemeinde zuweist, nun darin, die „Auswanderung“ der jüdischen Bevölkerung zu organisieren. Die Jüdische Gemeinde erhält zu diesem Zweck eine eigene „Auswanderungsabteilung“.
„Auswanderung“ bedeutet für die Betroffenen: Vertreibung und Flucht, dadurch aber auch die Rettung des nackten Lebens (mit Ausnahme derjenigen, die in Staaten fliehen, die später durch deutsche Truppen besetzt werden). Etwa zwei Dritteln der rund 200.000 österreichischen Jüdinnen und Juden gelingt die Flucht. Dazu trägt die Unterstützung durch die Jüdische Gemeinde oft entscheidend bei. Allein zwischen Dezember 1938 und Kriegsbeginn im September 1939 können über 2.800 Minderjährige mit Unterstützung der Jüdischen Gemeinde ins Ausland gerettet werden.[3]
Zur Umsetzung der „Auswanderung“ werden eine ganze Reihe neuer Ämter und Stellen geschaffen, darunter auch die Aktion Gildemeester.[4] Zahlreiche mittellose „Auswanderer“ suchen bei der Jüdischen Gemeinde um Zuschüsse an.[5] Jüdinnen und Juden, die noch Geld, Möbel oder Wertgegenstände besitzen, können diese nicht mehr mitnehmen, wenn es ihnen gelingt, das Land zu verlassen. Vertreibung und Beraubung gehen Hand in Hand. Das Ziel der Politik in der Sprache der Täter: „Darr Jud muß weg und sein Gerschtl bleibt da!“[6]
Systematische Enteignung, Berufsverbote und Entlassungen führen dazu, dass immer mehr Verfolgte verarmen. Mit der zwangsweisen Auflösung jüdischer Vereine fallen zugleich die vorhandenen Hilfsorganisationen großteils weg. Die Jüdische Gemeinde muss nun die gesamte Organisation und Finanzierung der Fürsorge leisten. Um dem Bedarf zumindest ansatzweise gerecht zu werden, richtet die IKG allein im Sommer 1938 acht zusätzliche Armenküchen ein. SA und HJ stören die Ausspeisungen regelmäßig, indem sie Kessel auf die Straße leeren und Nahrungsmittel plündern.[7]
Die „Befürsorgten“ werden von der Jüdischen Gemeinde genau erfasst. Auch über die „Sammelwohnungen“, in denen delogierte Jüdinnen und Juden auf engstem Raum zusammenleben, führt sie Buch. Bis September 1939 muss sie außerdem ein Verzeichnis erstellen, das Informationen über alle noch im Land verbliebenen Mitglieder der Kultusgemeinde enthält. Hier werden Namen, Alter, Staatsangehörigkeit, Beruf und auch das Vermögen der einzelnen Personen aufgezeichnet. Diese und ähnliche Listen dienen ab 1941 als Grundlage für die Deportationen.[9]
Im August 1938 wird die Zentralstelle für jüdische Auswanderung eingerichtet. Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung soll von dieser künftig zentral gelenkt werden. Die Jüdische Gemeinde bleibt aber weiterhin bestehen und wird von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung gezwungen, deren antijüdischer Politik zuzuarbeiten. Gemeinsam mit zionistischen Organisationen und ausländischen Hilfsorganisationen muss die Jüdische Gemeinde Devisen und Einreisevisa beschaffen. Außerdem ist sie weiterhin dafür zuständig, Statistiken und Diagramme zu erstellen, die Auskunft über die demografischen Veränderungen der jüdischen Bevölkerung geben.[10]
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 schließen sich die letzten vorhandenen legalen Fluchtwege. Damit beginnt sich eine Entwicklung abzuzeichnen, die in der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung gipfeln wird. In einem Brief schildert Josef Löwenherz, der Amtsdirektor der Jüdischen Gemeinde, im Jänner 1941 die aussichtslose Lage:
„Die Verhältnisse sind unsagbar traurig und werden von Tag zu Tag schlimmer. […] Juden dürfen weder Radio noch Telephon haben. Der Lebensmitteleinkauf ist bloß auf zwei Stunden täglich beschränkt, die Zuweisungen sind sehr knapp – Milch, Obst, Nährmittel dürfen an Juden nicht verkauft werden. Man kann den Lebensunterhalt nur kärglich auf die Weise bestreiten, dass man ab und zu von Freunden aus benachbarten Ländern Liebesgabenpakete bekommt. Das Versiegen der Auswanderungsmöglichkeit bringt die Menschen zur Verzweiflung, umsomehr, als sie trotz aller Schwierigkeiten gedrängt werden, auszuwandern und die Stadt zu verlassen.“[11]
Im Oktober 1941 wird Jüdinnen und Juden die Auswanderung aus dem Deutschen Reich schließlich endgültig untersagt. Die Auswanderungsabteilung der Jüdischen Gemeinde wird verkleinert und muss die Zentralstelle bei den organisatorischen Vorarbeiten für die großen Deportationen unterstützen, die nun anrollen. Die Gemeinde-Mitarbeiter:innen sind dafür zuständig, Namenslisten für die Transporte zu alphabetisieren und zu vervielfältigen. Sie werden aber auch als „Ausheber“ und direkt bei den Deportationen als „Ordner“ eingesetzt. Sie haften für die Überstellung aller „ausgehobenen“ Menschen. Wenn jemand fehlt, droht ihnen und ihren Familienangehörigen selbst die Deportation.[12]
Anfang November 1942, als die großen Deportationen abgeschlossen sind und in Wien kaum noch Jüdinnen und Juden zurück geblieben sind, wird die Jüdische Gemeinde aufgelöst. Die meisten ihrer Mitarbeiter:innen werden nun ebenfalls deportiert. Als nachfolgendes Organ setzen die NS-Behörden den Ältestenrat der Juden ein. Dieser muss die Tätigkeiten der Jüdischen Gemeinde zwangsweise übernehmen. Leiter wird erneut Josef Löwenherz. Er überlebt die Shoah und wandert in die USA aus. Die Ereignisse in Wien verfolgen ihn bis an sein Lebensende 1960.
[1] Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main 2000, 69–71.
[2] Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution (=Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 21), Wien 2004, 24–26.
[3] Gabriele Anderl, Die Wiener jüdische Gemeinde unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 130–149, hier 148.
[4] Rabinovici, Instanzen, 2000, 76–77.
[5] Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 20/1), Wien/München 2004, 86.
[6] Völkischer Beobachter, 26.4.1938, 2.
[7] Rabinovici, Instanzen, 2000, 73; Anderl, Wiener jüdische Gemeinde, 2025, 136.
[9] Anderl, Wiener jüdische Gemeinde, 2025, 136.
[10] Gabriele Anderl, Wiener jüdische Gemeinde, 136.
[11] Personal Correspondence 1939−1941, Josef Löwenherz an Siegmund Levarie (Löwenherz), 9.1.1941. LBI, AR 25055, Joseph Löwenherz Collection.