Die Israeli­tische Kultus­gemeinde Wien im National­sozialismus


Nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland wird die Israelitische Kultusgemeinde Wien zur Mitwirkung an der antijüdischen Politik des Regimes gezwungen, insbesondere an der Vertreibung. Für die Betroffenen ist die Situation zwiespältig. Schließlich bedeutet Vertreibung auch erfolgreiche Flucht – und damit Lebensrettung.
Straße mit Häuserfront, im Vordergrund zwei Mädchen mit abgewandtem Blick.  © ÖNB Bildarchiv
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Blick in die Wiener Seitenstettengasse 4. Hier, im selben Gebäude wie der Stadttempel, befindet sich bis heute der Sitz der Israelitischen Kultusgemeinde.

18. März 1938, Wien: SD- und Gestapo-Angehörige dringen in die Räumlichkeiten der Kultusgemeinde ein. Sie durchwühlen sämtliche Schränke und Fächer, brüllen und misshandeln Funktionäre und Kanzleikräfte. Einen IKG-Mitarbeiter zwingen sie dazu, einen Vortrag darüber zu halten, wie die jüdische Abstammung am besten ausgeforscht werden könne. Anschließend verhaften sie die leitenden jüdischen Funktionäre und erklären die IKG für geschlossen.[1]


Männer in Uniform, teilweise mit Stahlhelm und Gewehr, stehen vor einem Gebäude in Gruppen zusammen. © Bundesarchiv
© Bundesarchiv
SS-Angehörige sammeln sich im Hof des Innenministeriums in der Herrengasse 7. Während die Männer auf weitere Befehle warten, führen sie sich gegenseitig ihre Waffen vor. Das Datum der Aufnahme ist unbekannt, vermutlich März oder April 1938.

Unter den Verhafteten ist auch Desider Friedmann, der Präsident der Kultusgemeinde. Er wird Anfang April 1938 mit dem ersten „Prominententransport“ in das Konzentrationslager Dachau verschleppt und schließlich 1944 in Auschwitz ermordet.


Aufgaben der Kultusgemeinde vor dem „Anschluss“

Bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938 kümmert sich die Kultusgemeinde vor allem um Bildungs- und Kultusfragen, so etwa um die Erhaltung von Synagogen oder die Bestellung von Religionslehrern und Rabbinern. Eine weitere zentrale Aufgabe ist die Unterstützung der bedürftigen jüdischen Bevölkerung. Die IKG finanziert zahlreiche Fürsorgeeinrichtungen, darunter ein Altersheim, ein Spital und ein Kinderambulatorium. Im Rahmen regelmäßiger Spendenaktionen werden zudem Kleidung, Lebensmittel oder Kohle gesammelt, die an ärmere Gemeindemitglieder verteilt werden. Insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise wird diese Hilfe dringend gebraucht, weil auch die jüdische Bevölkerung rasant verarmt und auf Unterstützung angewiesen ist. So müssen 1936 von der Kultusgemeinde 60.000 Menschen „befürsorgt“ werden.[2] Das dritte bedeutende Aufgabengebiet der Kultusgemeinde ist die Förderung des kulturellen Lebens der Mitglieder, insbesondere durch die Unterstützung des breit gefächerten jüdischen Vereinswesens.

Ein dreistöckiges Haus auf einer Anhöhe, umgeben von Bäumen, im Hintergrund der Blick auf die darunterliegende Stadt. © Wien Museum
© Wien Museum
Das Blinden-Institut der IKG auf der Hohen Warte im 19. Wiener Gemeindebezirk. Es wird im Zuge der großen Deportationen 1942 auf Befehl der Zentralstelle geschlossen.
Eine lange Menschenschlange am Gehsteig vor einem Hauseingang, auf der Straße weitere Menschen. Ein Schild über dem Eingang mit der Aufschrift „Polizeikommissariat Margareten“, umrandet von kleinen Hakenkreuz-Symbolen. © ÖNB Bildarchiv
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Anstellen um Reisepässe: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland versuchen Zehntausende, das Land möglichst rasch zu verlassen. Ironischerweise hemmt die Verfolgung und permanente Schikanierung der Betroffenen die vom NS-Regime bezweckte Vertreibung. So müssen Menschen oft Monatelang auf Pässe warten, weil sie sich nur auf einem einzigen Passamt, jenem im 5. Wiener Gemeindebezirk, anstellen dürfen Auf Bild eine Warteschlange ebendort, Mai 1938.

Die Kultusgemeinde während des Nationalsozialismus

Nachdem die Kultusgemeinde im März 1938 auf Geheiß des SD geschlossen worden ist, wird sie Anfang Mai 1938 wiedereröffnet, nachdem sie entlang der Vorgaben Adolf Eichmanns reorganisiert worden ist. Nunmehr muss sie die Bezeichnung Jüdische Gemeinde Wien tragen und steht unter der Kontrolle des SD. Da das NS-Regime in der ersten Phase auf die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung abzielt, besteht die Hauptaufgabe, die man der Jüdischen Gemeinde zuweist, nun darin, die „Auswanderung“ der jüdischen Bevölkerung zu organisieren. Die Jüdische Gemeinde erhält zu diesem Zweck eine eigene „Auswanderungsabteilung“.

„Auswanderung“ bedeutet für die Betroffenen: Vertreibung und Flucht, dadurch aber auch die Rettung des nackten Lebens (mit Ausnahme derjenigen, die in Staaten fliehen, die später durch deutsche Truppen besetzt werden). Etwa zwei Dritteln der rund 200.000 österreichischen Jüdinnen und Juden gelingt die Flucht. Dazu trägt die Unterstützung durch die Jüdische Gemeinde oft entscheidend bei. Allein zwischen Dezember 1938 und Kriegsbeginn im September 1939 können über 2.800 Minderjährige mit Unterstützung der Jüdischen Gemeinde ins Ausland gerettet werden.[3]

Zur Umsetzung der „Auswanderung“ werden eine ganze Reihe neuer Ämter und Stellen geschaffen, darunter auch die Aktion Gildemeester.[4] Zahlreiche mittellose „Auswanderer“ suchen bei der Jüdischen Gemeinde um Zuschüsse an.[5] Jüdinnen und Juden, die noch Geld, Möbel oder Wertgegenstände besitzen, können diese nicht mehr mitnehmen, wenn es ihnen gelingt, das Land zu verlassen. Vertreibung und Beraubung gehen Hand in Hand. Das Ziel der Politik in der Sprache der Täter: „Darr Jud muß weg und sein Gerschtl bleibt da!“[6]

Systematische Enteignung, Berufsverbote und Entlassungen führen dazu, dass immer mehr Verfolgte verarmen. Mit der zwangsweisen Auflösung jüdischer Vereine fallen zugleich die vorhandenen Hilfsorganisationen großteils weg. Die Jüdische Gemeinde muss nun die gesamte Organisation und Finanzierung der Fürsorge leisten. Um dem Bedarf zumindest ansatzweise gerecht zu werden, richtet die IKG allein im Sommer 1938 acht zusätzliche Armenküchen ein. SA und HJ stören die Ausspeisungen regelmäßig, indem sie Kessel auf die Straße leeren und Nahrungsmittel plündern.[7]

Ein langgezogener, zweistöckiger Bau, der in drei Risalite gegliedert ist, wobei der mittlere den Haupteingang bildet und höher ist. Davor eine Straße und Bäume.  © Archiv Bezirksmuseum Währing
© Archiv Bezirksmuseum Währing
Das Rothschild-Spital der Israelitischen Kultusgemeinde [LINK IKG], ist das einzige Krankenhaus in Wien, das Jüdinnen und Juden nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland noch aufnimmt.

Die „Befürsorgten“ werden von der Jüdischen Gemeinde genau erfasst. Auch über die „Sammelwohnungen“, in denen delogierte Jüdinnen und Juden auf engstem Raum zusammenleben, führt sie Buch. Bis September 1939 muss sie außerdem ein Verzeichnis erstellen, das Informationen über alle noch im Land verbliebenen Mitglieder der Kultusgemeinde enthält. Hier werden Namen, Alter, Staatsangehörigkeit, Beruf und auch das Vermögen der einzelnen Personen aufgezeichnet. Diese und ähnliche Listen dienen ab 1941 als Grundlage für die Deportationen.[9]

Im August 1938 wird die Zentralstelle für jüdische Auswanderung eingerichtet. Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung soll von dieser künftig zentral gelenkt werden. Die Jüdische Gemeinde bleibt aber weiterhin bestehen und wird von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung gezwungen, deren antijüdischer Politik zuzuarbeiten. Gemeinsam mit zionistischen Organisationen und ausländischen Hilfsorganisationen muss die Jüdische Gemeinde Devisen und Einreisevisa beschaffen. Außerdem ist sie weiterhin dafür zuständig, Statistiken und Diagramme zu erstellen, die Auskunft über die demografischen Veränderungen der jüdischen Bevölkerung geben.[10]
Diagramme auf einem Plakat, das die „jüdische Wanderung aus der Ostmark“, also die Flucht und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung Österreichs, veranschaulichen soll. Enthalten sind auch Daten über Geburten und Sterblichkeit der jüdischen Bevölkerung, über jüdische Organisationen und über die „für die Auswanderung anzulaufenden Ämter und Organisationen“. © IKG Wien
© IKG Wien
: Eines der „Auswanderungsdiagramme“, welche die Jüdische Gemeinde regelmäßig im Auftrag der Zentralstelle anfertigen muss. Die Grafik gibt Aufschluss über den jeweiligen Stand der nationalsozialistischen Vertreibungspolitik. So sollen dieser Aufstellung zufolge bis März 1941 knapp 142.000 als jüdisch geltende Personen ins Ausland geflüchtet sein.

Von der Vertreibung zur Deportation

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 schließen sich die letzten vorhandenen legalen Fluchtwege. Damit beginnt sich eine Entwicklung abzuzeichnen, die in der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung gipfeln wird. In einem Brief schildert Josef Löwenherz, der Amtsdirektor der Jüdischen Gemeinde, im Jänner 1941 die aussichtslose Lage:

„Die Verhältnisse sind unsagbar traurig und werden von Tag zu Tag schlimmer. […] Juden dürfen weder Radio noch Telephon haben. Der Lebensmitteleinkauf ist bloß auf zwei Stunden täglich beschränkt, die Zuweisungen sind sehr knapp – Milch, Obst, Nährmittel dürfen an Juden nicht verkauft werden. Man kann den Lebensunterhalt nur kärglich auf die Weise bestreiten, dass man ab und zu von Freunden aus benachbarten Ländern Liebesgabenpakete bekommt. Das Versiegen der Auswanderungsmöglichkeit bringt die Menschen zur Verzweiflung, umsomehr, als sie trotz aller Schwierigkeiten gedrängt werden, auszuwandern und die Stadt zu verlassen.“[11]

Ein Mann sitzt mit zwei Uniformierten an einem langen Tisch in einem mit Tapeten ausgekleideten und großen gerahmten Porträts geschmückten Raum. © Bundesarchiv
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Razzia in den Räumlichkeiten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien: Josef Löwenherz (links) wird durch Adolf Eichmann (rechts, schreibend) und dessen Vorgesetzten, Herbert Hagen (Mitte) vernommen, März 1938.

Im Oktober 1941 wird Jüdinnen und Juden die Auswanderung aus dem Deutschen Reich schließlich endgültig untersagt. Die Auswanderungsabteilung der Jüdischen Gemeinde wird verkleinert und muss die Zentralstelle bei den organisatorischen Vorarbeiten für die großen Deportationen unterstützen, die nun anrollen. Die Gemeinde-Mitarbeiter:innen sind dafür zuständig, Namenslisten für die Transporte zu alphabetisieren und zu vervielfältigen. Sie werden aber auch als „Ausheber“ und direkt bei den Deportationen als „Ordner“ eingesetzt. Sie haften für die Überstellung aller „ausgehobenen“ Menschen. Wenn jemand fehlt, droht ihnen und ihren Familienangehörigen selbst die Deportation.[12]

Mehrere Menschen stehen auf einem Anhänger und tragen Gepäckstücke. Männer, zum Teil mit Armbinden und aufgenähtem Stern, helfen ihnen beim Absteigen. Im Hintergrund ein Waggon, dahinter ein Gebäude. © Bundesarchiv
© Bundesarchiv
Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde, erkennbar an der Armbinde und dem aufgenähten Judenstern, während einer Deportation auf dem Aspang-Bahnhof. Sie müssen Menschen, die auf offenen LKWs zum Bahnhof gebracht werden, in den bereit stehenden Zug verfrachten. Geht es der SS nicht schnell genug, treibt sie die Menschen mit Brüllen, Schlägen und Tritten an. Diese Szenen ereignen sich nicht an fernen, abgeschirmten Orten, sondern mitten in der Wiener Innenstadt.

Anfang November 1942, als die großen Deportationen abgeschlossen sind und in Wien kaum noch Jüdinnen und Juden zurück geblieben sind, wird die Jüdische Gemeinde aufgelöst. Die meisten ihrer Mitarbeiter:innen werden nun ebenfalls deportiert. Als nachfolgendes Organ setzen die NS-Behörden den Ältestenrat der Juden ein. Dieser muss die Tätigkeiten der Jüdischen Gemeinde zwangsweise übernehmen. Leiter wird erneut Josef Löwenherz. Er überlebt die Shoah und wandert in die USA aus. Die Ereignisse in Wien verfolgen ihn bis an sein Lebensende 1960.


[1] Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main 2000, 69–71.

[2] Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution (=Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 21), Wien 2004, 24–26.

[3] Gabriele Anderl, Die Wiener jüdische Gemeinde unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 130–149, hier 148.

[4] Rabinovici, Instanzen, 2000, 76–77.

[5] Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 20/1), Wien/München 2004, 86.

[6] Völkischer Beobachter, 26.4.1938, 2.

[7] Rabinovici, Instanzen, 2000, 73; Anderl, Wiener jüdische Gemeinde, 2025, 136.

[8] Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds: „Arisierung“ und Restitution (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 21/2), Wien 2004, 79.

[9] Anderl, Wiener jüdische Gemeinde, 2025, 136.

[10] Gabriele Anderl, Wiener jüdische Gemeinde, 136.

[11] Personal Correspondence 1939−1941, Josef Löwenherz an Siegmund Levarie (Löwenherz), 9.1.1941. LBI, AR 25055, Joseph Löwenherz Collection.