10. November 1938, Kirchstettengasse 46 im 16. Wiener Gemeindebezirk: Zwei Männer klopfen an die Rollbalken eines Geschäfts und rufen: „SA, öffnen!“ Als die Verkäuferin die Tür einen Spalt breit öffnet, stürmen zehn junge Männer in das Lokal und räumen es aus. Die Kassa, Schürzen, Waagen – sogar einen Ofen nehmen sie mit. Während sie die großen Waren auf Lastautos verladen, verschwinden Rasierklingen, Brieftaschen und andere kleine Gegenstände in den Hosentaschen der Burschen.[1]
Nirgends im gesamten Deutschen Reich verlaufen die Randale und Übergriffe derartig brutal wie in Österreich, das erst seit dem „Anschluss“ im März 1938 Teil des NS-Staates ist. Der Novemberpogrom, oft (und meist unwillentlich verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt), dauert mehrere Tage an.[2] Wie schon im Frühling des Jahres verwüsten und plündern Nazis abermals tausende „jüdische“ Wohnungen und Geschäfte, verhaften Menschen und zerstören Synagogen und jüdische Vereinslokale.
Den Vorwand für die organisierte Gewaltaktion bietet ein Attentat in Paris. Der siebzehnjährige Herschel Grynszpan gibt am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft mehrere Schüsse auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath ab. Der homosexuelle Diplomat stand dem NS-Regime distanziert gegenüber. Sein Tod stellt für dieses nichts desto trotz einen willkommenen Anlass dar, eine von langer Hand geplante Gewaltaktion gegen die jüdische Bevölkerung in Gang zu setzen. Von Hitler und Goebbels erhalten Gauleiter und SA-Führer den Befehl, mit ihren Männern, aber auch mit Angehörigen der Hitlerjugend auszurücken.[3] Unbedingt in Zivilkleidung, denn was dann geschieht, soll auf Unbeteiligte möglichst den Eindruck spontaner Krawalle durch die örtliche Bevölkerung machen. Nur so erwecken sie den Anschein, als tobe sich hier spontaner „Volkszorn“ aus. Als jähen, unkontrollierten Wutausbruch in der Bevölkerung möchte Propagandaminister Goebbels die Ausschreitungen wahrgenommen wissen.[4]
In der Nacht auf den 10. November 1938 zerstören Horden junger Männer zahlreiche Wiener Synagogen und Bethäuser. Sie brechen Türen teils unter Verwendung von Handgranaten auf und stecken die Gotteshäuser anschließend in Brand. Juden, die man dabei antrifft, werden verprügelt und (wiewohl die SA dazu auch nach NS-Recht keinerlei Befugnis hat) „festgenommen“. Die Feuerwehr beschränkt sich darauf, die Brände zu lokalisieren und das Übergreifen der Flammen auf benachbarte Häuser zu verhindern. Trotzdem ist sie pausenlos im Einsatz und greift sogar auf die beurlaubten Feuerwehrleute zurück.[5]
Die großen Synagogen fallen dem Pogrom als erstes zum Opfer. Aber auch die restlichen der insgesamt 96 Wiener jüdischen Tempel und Bethäuser sind bald ausgeplündert und verwüstet. Das Ziel ist offenkundig: alle sichtbaren Zeichen jüdischen Lebens aus dem Stadtbild zu tilgen.[6]
Aber es trifft nicht nur Gemeindeeinrichtungen, sondern zu zehntausenden auch Privatpersonen. SA und Hitlerjungen hämmern an die Türen „jüdischer“ Wohnungen oder schlagen sie gleich ein. Die Bewohner:innen werden wüst beschimpft, bedroht und geschlagen. Die Trupps nehmen sich in den Wohnungen, was ihnen gefällt, der Rest wird kurz und klein geschlagen oder durch die Fenster auf die Straße geworfen. Manche der geschockten jüdischen Familien werden kurzerhand aufgefordert, ihre Wohnungsschlüssel abzugeben und sich zum Bahnhof zu begeben, um das Land zu verlassen.[7] Eine Wiener Jüdin schildert die Zustände nach einem solchen Überfall:
„Zuerst war ich ja nur froh, dass wir es überlebt haben, aber als ich dann sah, dass ich kein Kleid, keinen Mantel habe, und zum Überfluss auch kein einziges Stückel Wäsche mehr, da habe ich von neuem geglaubt, mir bricht das Herz. […] Als der Doktor kam, Papa, Rosa und Herta zu verbinden, die alle drei fürchterlich aus den Köpfen bluteten, da konnten wir ihm weder ein Handtuch, noch sonst irgendein Wäschestück geben, dass er sich das Blut abwischen kann […]. Dadurch, dass alle Gläser, Fenster und Spiegel eingeschlagen wurden, meine arme Psyche musste auch daran glauben, waren so viele Scherben und Splitter, dass wir nicht aus noch ein wussten.“[8]
Auch „jüdische“ Geschäfte werden zur Zielscheibe. Im Zuge des Pogroms werden 5.000 Geschäftsräumlichkeiten geplündert. Dabei ist es den Angreifern egal, ob das Geschäft bereits „arisiert“ wurde und unter „kommissarischer Verwaltung“ steht. Die Beute teilen sie unter sich auf. Wirtschaftsminister Hermann Göring ist empört: „Mir wäre es lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“[9]
Die Zerstörungen werden von einer großen Verhaftungswelle begleitet. Allein in Wien nehmen Nazis, zum Teil auch reguläre Polizei, mehr als 6.500 jüdische Männer fest. 3.000 der Inhaftierten verschleppen sie in das Konzentrationslager Dachau, die meisten anderen werden aus Krankheitsgründen „vorläufig zurückgestellt“. Nur knapp 1.000 Menschen kommen nach wenigen Tagen wieder frei. Vor ihrer Deportation in das Konzentrationslager müssen die Verhafteten tagelang in Notarresten ausharren, wo sie brutalen Misshandlungen ausgesetzt sind.[10]
Einer der Inhaftierten erinnert sich später an die Gewaltexzesse in einem solchen Notarrest: „In der Nacht auf Montag, den 14. November, plötzliche Visite, alles springt schlaftrunken auf, der ‚Zimmerkommandant‘ meldet ‚43 Mann’, erhält einen Hieb ins Gesicht, dass er taumelt, er hätte melden sollen ‚43 Juden!‘ Und jetzt beginnt auf Kommando das ‚Wippen‘. Das ging so eine Stunde lang. Wer es nicht exakt machte, wurde auf den Gang gerufen und kam blutig und mit Peitschenstriemen zurück. Dabei immer höchstes Geschrei, wir hörten alles aus den Nebenräumen, und es war viel ärger, das Geschrei der Torturen anzuhören, als sie selber zu erleben.
Wir hatten das Glück, in unserem schmalen Zimmer nicht viel Entfaltungsmöglichkeit zu bieten, aber nebenan waren große Schulzimmer und da ging es hoch her. Speziell in dem einen war ein Rabbi im Kaftan, der übte eine besondere Anziehung auf die Bestien aus. Den zerschlugen sie vollständig. Zähne, beide Jochbeine und die Schädelbasis, letztere mit den Stahlhelmen und nichts war furchtbarer, als dieses Geräusch und das begleitende Wehgeschrei, das dann in ein Röcheln überging, mitanhören zu müssen.“[11]
Die SS-Männer begnügen sich nicht damit, die Inhaftierten zu schlagen. Sie zwingen ihre Opfer auch dazu, sich gegenseitig zu verprügeln. Ein anderer Zeuge erzählt später: „Mit staunenswerter, mit unglaublicher Selbstdisziplin unterwarfen die Gefangenen sich diesem Blutbefehl. […] Zwei gänzlich Fremde, unansehnliche, schwarzbärtige Kaufmannstypen [mussten] aufeinander losgehen, wie die Gladiatoren im alten Rom, mussten die Hände gegeneinander erheben, als wären sie Todfeinde.“[12]
20 bis 30 Menschen werden in Österreich im Zuge des Pogroms getötet. Die meisten davon kommen in einer zum Gefängnis umgewandelten Hauptschule in der Karajangasse im 20. Bezirk ums Leben.[13] Einer der dort Inhaftierten berichtet später von seiner Deportation: „Ich war für Dachau bestimmt worden und kam mit meinen Kameraden, Mittwoch, den 16.11., gegen zwei Uhr früh mit dem ‚grünen Heinrich‘ [so werden in Wien damals Polizeiwagen genannt, Anm.] auf den Westbahnhof, wo wir durch eine Kette von S.S. Spießruten laufen mussten und neuerlich geschlagen wurden, bis wir in Viehwaggons einwaggoniert wurden. Hier verbrachten wir die 16-stündige Fahrt, 70 Mann, ohne Essen und Trinken, ohne unsere Notdurft verrichten zu können, kamen halb erstickt in Dachau an und waren glücklicher als diejenigen, die unter Bewachung in Personenwagen reisten, die ganze Zeit ins Licht schauen mussten und ebenso lange unmenschliche Prügel erhielten. Von diesen verloren viele den Verstand, sprangen aus dem Fenster und wurden ‚auf der Flucht erschossen‘.“[14]
Die Deportationen bezwecken vor allem eines: sie sollen die im Land verbliebene jüdische Bevölkerung zur Auswanderung bewegen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in den Konzentrationslagern mörderisch zugeht. Die Angehörigen der Deportierten setzen daher alle Hebel in Bewegung, um ihre Männer und Söhne freizubekommen und bemühen sich noch verzweifelter um Auswanderungspapiere. Der Großteil der KZ-Häftlinge wird aber erst nach Monaten unter der Bedingung entlassen, das Land binnen 14 Tagen zu verlassen.[15]
Nach dem Pogrom entzieht das nationalsozialistische Regime der jüdischen Bevölkerung endgültig die wirtschaftliche Existenzgrundlage. Bereits am 12. November 1938 wird die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ erlassen. Damit ist Jüdinnen und Juden jede unternehmerische Tätigkeit im Einzelhandel und im Handwerk verboten. Zahlreiche Fabriken und Unternehmen entlassen alle jüdischen Beschäftigten. Allein in Wien werden bis zu 5.000 jüdische Betriebe geschlossen.[16] Jüdische Studierende werden von den Universitäten verwiesen. Nach dem Pogrom wird den Opfern als „Sühneleistung“ eine „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark aufgebürdet.[17] Ärztliche Versorgung erhalten Juden und Jüdinnen nur mehr in jüdischen Spitälern.[18]
Der November 1938 markiert den Beginn der systematischen Enteignung und Vertreibung. Spätestens jetzt ist klar: die Hoffnung, dass es irgendeine Zukunft für Jüdinnen und Juden im NS-Deutschland gibt, ist eine Illusion.
[1] Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008, 281–282.
[2] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 267; Gerhard Botz, Wien vom „Anschluss“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien/München 1978, 397.
[3] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 267–270; Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung 1938/39, Wien 2018, 523.
[4] Botz, Nationalsozialismus, 2018, 522.
[5] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 277.
[6] Botz, Nationalsozialismus, 2018, 539.
[7] Botz, Nationalsozialismus, 2018, 520.
[8] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 290–291.
[9] Göring zit. Nach Hans Safrian, Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung, in: Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hg.), Arisierung und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 61–89, hier 81.
[10] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 270.
[11]Safrian/Witek, Dokumente, 2008, S. 295.
[12] Erinnerungen von Ernst Benedikt an den Novemberpogrom 1938, DÖW 4505.
[13] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 270; Botz, Nationalsozialismus, 2018, 537–538.
[14] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 296–297.
[15] Botz, Nationalsozialismus, 2018, 539–540.
[17] Safrian/Witek, Dokumente, 2008, 271.
[18] Regina Fritz, „Anschluss“: Pogrome, Raubzug und systematische antijüdische Staatspolitik 1938, in: Florian Wenninger/Marie-Sophie Egyed (Hg.), Schaltstelle des Terrors. Geschichte und Personal der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung Wien 1938–1943, Wien 2025, 58–73, hier 65.